Die Alternative in der Hiobsbotschaft
Hallo Freund,
vermutlich hast auch du von dem tragischen Hubschrauber-Absturz vom 26. Januar 2020 in Kalifornien gehört, bei dem neun Todesopfer zu beklagen sind, darunter Basketball-Ikone Kobe Bryant.
Weltweit sind die Menschen bestürzt und fassungslos über den Verlust eines Idols. Unzählige Stars, Sportgrößen, Politiker, Wegbegleiter und Fans bekundeten unmittelbar nach Bekanntwerden des Unglücks über die sozialen Medien ihr Mitleid.
Ich weiß nicht, wann du die Nachricht möglicherweise erhieltst, mich traf sie am Folgeabend. Noch während ich davon erfuhr, betete ich intuitiv für die in der Reportage gezeigten Hinterbliebenen Bryants und all die trauernden Fans, die sich teilweise wie ein Menschenteppich versammelt hatten, um ihrer Trauer gemeinschaftlich Ausdruck zu verleihen.
Wie offenbar viele Personen nahm auch ich während der Berichterstattung wahr, dass diese sich verständlicherweise ausgiebig mit dem Tod des prominenten Bryant und seiner Tochter beschäftigte - die weiteren sieben ebenfalls verunglückten Insassen wurden lediglich ein Mal zahlenmäßig benannt.
Unabhängig davon betete ich ganz selbstverständlich auch für die Hinterbliebenen und Freunde dieser anonym gebliebenen Personen, denn mir war bewusst, dass auch da viel Trauer und Schmerz zu bewältigen sind.
Zahlreiche Betroffene zeigten ihre Anteilnahme und ihre Trauer u.a. durch Schweigeminuten, wie beispielsweise auch zur 62. Grammy-Show, welche im Staples Center von Los Angeles stattfand - der Halle, in der auch die Heimspiele von Bryants früherem Team Los Angeles Lakers ausgetragen werden. Auf Großbildschirmen wurde ein Foto des verstorbenen Superstars gezeigt. Auch vor diversen öffentlichen Sportevents gab es zum stillen Gedenken an den plötzlichen Tod von Kobe Bryant eine Schweigeminute.
Als ich dann am Folgetag aus meinem persönlichen Umfeld mit individuellen Statements und Meinungen zum Unfallgeschehen und der damit verbundenen Berichterstattung konfrontiert wurde, entsprang in mir der Wunsch, dies heute hier in diesen Newsletter zu thematisieren, um es mit dir zu teilen.
Was war passiert?
Nun, möglicherweise hast du ja ganz andere Erfahrungen gemacht als ich, vielleicht auch ähnliche: Mich erreichten jedenfalls Unverständnis und Empörung darüber, dass man „…jetzt diesen Basketballspieler derart in den Mittelpunkt setzen…“ müsse, dass „…über die anderen Toten kein Sterbenswort verloren …“ würde und dass man es auch übertreiben könne…
Am überraschendsten für mich war ein Statement, welches im Zusammenhang mit Bryants Tod Bezug nahm auf die Holocaust-Opfer indem es resümierte, dass es soundso lange still sein müsste, würde man auch für jedes Holocaust-Opfer eine Minute schweigen.
Zweifelsfrei hat jeder Mensch einen freien Willen. Und diesen sollten wir alle auch bewusst und eigenverantwortlich gebrauchen. In Zeiten der Pressefreiheit darf somit logischerweise auch (fast) alles publiziert werden. Gleichzeitig stellt sich jedoch die Frage, was Menschen wohl zu derartigen Aussagen motiviert?
Natürlich steht außer Diskussion, dass es wohl kein angemessenes Vokabular gibt, um die Grausamkeit, den Schmerz und die Tragik des Holocaust auch nur annähernd angemessen in Worte fassen zu können. Aber ich glaube, darum geht es hier auch nicht.
Möglicherweise handelt es sich hier um eine ganz andere Inspiration, die durchaus exemplarisch gesehen werden kann und die es vor diesem Hintergrund meines Erachtens deshalb durchaus verdient, heute hier einmal genauer in Augenschein genommen zu werden.
Dazu möchte ich vorab gerne ein kleines Erlebnis mit dir teilen.
Einer meiner Brüder bekam kürzlich einen Preis verliehen und ich erinnere mich, wie ich mich bereits ab dem Zeitpunkt, als ich davon erfuhr, von ganzem Herzen FÜR und MIT ihm freute – gerade so, als würde ich selbst diesen Preis erhalten. Mein Mann schüttelte über meine Euphorie sogar den Kopf, weil er sich etwas wunderte, wie ich mich für eine andere Person so überschwänglich freuen konnte. Aber ja, es war so. :)
Wozu schreibe ich dir das? Nun, als Preisträger war mein Bruder im Vorfeld aus einem Pool von Nominierten ausgewählt worden und erhielt während einer Festveranstaltung eine ganz besondere Würdigung. In diesem feierlichen Rahmen wurde er verdient geehrt, weil seine Leistungen der Vergangenheit und sein Wirken zum Wohle und zum Nutzen vieler Menschen auf diesem Weg Anerkennung finden sollten. Darüber hinaus haben Preisträger immer auch Vorbildwirkung, weil sie als Gewinner automatisch andere Menschen inspirieren, das Beste aus ihrem Leben zu machen, die beste Version ihres Selbst zu entwickeln und freizusetzen.
Niemand kam auf die Idee (zumindest erhielt ich bis dato keine Kenntnis davon), lautstark zu monieren, dass diese Würdigung unangemessen sei oder hatte das Bedürfnis, persönlich oder über Social Media dem eigenen Ärger Luft zu machen, indem man kommuniziert hätte, dass man diese Ehrung einer einzelnen Person womöglich als unfair, übertrieben oder einseitig fokussiert betrachte, weil es ja immerhin noch weitere (sicher durchaus auch ehrensWERTE) Nominierte gab, von denen im Nachgang letztendlich keiner mehr sprach.
Stattdessen konnte ich an diesem Abend voller Freude verfolgen, wie mein Bruder zahlreiche Gratulationen und anerkennende Worte erhielt. Verdientermaßen.
Und Hand auf`s Herz: Gehört es nicht zu den schönsten Privilegien, wenn wir persönliches Glück mit anderen teilen dürfen? Die Anteilnahme der Menschen um einen herum, die eigene Freude mit anderen gemeinsam zu genießen, machen doch das eigene Glücksgefühl in solch einem Fall erst komplett, oder?
Vermutlich hast du die beiden Pfeiler, mit denen ich gerade imaginär eine Brücke gebaut habe, längst verstanden:
1. Aufrichtige Anteilnahme und Mitgefühl
Denn aufrichtig Anteil zu nehmen am Leben und am Schicksal anderer – an ihrer Freude und an ihrem Leid - ist Teil unser mentalen DNA, weil wir eben als soziale Wesen geschaffen wurden.
Darum kannst du das auch in der Gebrauchsanweisung für gelingendes Leben (kurz auch Bibel genannt) in Römer 12,15 (NGÜ) nachlesen, wenn du willst:
„Und freut euch mit denen, die sich freuen; weint mit denen, die weinen.“
Anteil zu nehmen sowie Mitgefühl zu geben und zu erhalten sind essenziell für ein gesundes und gelingendes Leben. Durch Anteilnahme und Mitgefühl wird unsere Freude vermehrt und wird unser Schmerz gelindert. Beide Erfahrungen – wenn auch im Ursprung differenziert möglich – wirken gleichermaßen wohltuend auf jeden von uns.
2. Ehre und Respekt
Römer 13,7 (NGÜ): „…Erweist dem Respekt, dem Respekt zusteht, und erweist dem Ehre, dem Ehre zusteht.“
Wenn wir jemanden verdient ehren, zeigen wir damit unsere Herzenshaltung, weil gebührende Ehre ein Ausdruck der Nächstenliebe ist. Dieser Zusammenhang ist belegt, denn interessanterweise geht es im nächsten Abschnitt dieses Kapitels direkt um die Liebe.
Nun ist zu eruieren, ob die momentane mediale Präsenz Bryants und all die anderen Formen der Respektsbekundung und Ehrerbietung angemessen scheinen oder nicht. Sind sie verdient oder nicht?
Abgesehen davon, dass die Beantwortung letztlich eine ganz individuelle Positionierung ist, möchte ich gerne mit dir gemeinsam kurz auf einige Eckdaten aus dem Leben des Verunglückten schauen.
Was war er für ein Mensch? Da ich Bryant nicht persönlich kannte, gebe ich das weiter, was ich gehört und gelesen habe.
Als erfolgreicher Basketballspieler gewann er beispielsweise fünf NBA-Meisterschaften, 2008 erhielt er die Auszeichnung als MVP (Most Valuable Player - wertvollster Spieler der Saison. Bei den Olympischen Sommerspielen in Peking 2008 und in London 2012 gewann Bryant mit der US-amerikanischen Nationalmannschaft jeweils eine Goldmedaille.
Kobe Bryant inspirierte viele Menschen - besonders auch junge – mit seinem Kämpferherz und seinem Willen, das Beste aus sich und seinem Leben zu machen. Dabei war er ganz offenkundig kein Mensch, dem der eigene Erfolg alles war, denn er wird als sehr warmherzig und aufrichtig mitfühlend von seinen Wegbegleitern beschrieben.
Er wollte das, was er wusste und konnte, nicht für sich behalten, sondern es mit der Welt teilen, damit andere Menschen von seinen Erfahrungen profitieren könnten. So lag ihm z.B. ein Animationskurzfilm über Basketball auf dem Herzen, für den er das Drehbuch schrieb. 2018 erhielt er eine Oscar in der Kategorie „Bester Animationskurzfilm“ und einen Emmy in der Kategorie „Außergewöhnliches post-produziertes Grafikdesign“.
Das klingt für einen Lebenslauf, der lediglich 41 Jahre lang geschrieben werden konnte, durchaus respektabel, finde ich. Was denkst du?
Ist es dann im Hinblick auf sein Leben nicht angemessen, sein Vermächtnis und seine Vorbildwirkung, mit der er Herzen erreichte, berührte und positiv veränderte, zu würdigen - vielleicht durch eine Schweigeminute, vielleicht durch besondere Erinnerungen mittels Pressemeldungen und Berichterstattungen zu seinem Unfalltod oder möglicherweise auch durch eine ganz andere Aktion, die aus LIEBE ins Leben gerufen wurde oder noch wird von eben genau diesen einst inspirierten und nun zutiefst traurigen Herzen?
Als Coach und Christ ist es mir naturgemäß wichtig, Menschen so gut wie möglich zu verstehen und mich in sie hineinzufühlen, um ihre Heran- und Vorgehensweise wertungsfrei nachvollziehen zu können.
Vor diesem Hintergrund habe ich mich gefragt: Wem könnte es nützen oder dienen, wenn die Menschen keine Schweigeminute für Bryant erbringen, wenn man in der Berichterstattung nur einen kleinen Satz über seinen Unfalltod verliert oder (der Gleichberechtigung wegen) gar keinen – weil man doch über die unbekannten Opfer wahrscheinlich sonst auch nie berichtet hätte?
Offen gesagt: Ich weiß es nicht. Ich finde kein Argument, was dienlich sein könnte. Auch erschließt es sich mir leider nicht, welchen Vorteil eine geringere mediale Präsenz Bryants an Mehrwert für Hinterbliebene des Holocaust generieren sollte oder welchen konstruktiven Zusammenhang es zwischen ihm und dem NS-Verbrechen überhaupt gibt.
Was wäre, wenn stattdessen – da nun schon einmal argumentativ auf den Tisch gebracht - gerade der Holocaust jeden von uns zu mehr Verständnis, Nächstenliebe, Mitgefühl und Anteilnahme inspirieren würde?